"Eine großartige Leistung – sehr traurig"

Fallstudie #2: Amos Vogel liest Stanislaw Lem, Fiasko


Vogels Annotate schlagen in vielen seiner Bücher alternative und subversive Lesarten vor, und dieser Umstand lässt sich anhand des letzten Romans von Vogels geliebtem Autor Stanislaw Lem ausgezeichnet veranschaulichen.
 
Cover Fiasko von Stanislaw Lem
Fiasko ist ein groß angelegter, in einer weit fortgeschrittenen Zukunft der Menschheit angesiedelter Roman, den Lem 1986 nach seiner Emigration aus Polen geschrieben hat. Wir werden in dieser kleinen Fallstudie zu Amos Vogels Science Fiction Lektüre in Folge nur jene Passagen wiedergeben, die er selbst hervorgehoben, markiert und kommentiert hat. Auf diese Weise bleibt freilich die literarische Gestalt, die Lem seiner Erzählung gibt, weitgehend im Dunkel, aber dafür fällt ein um so helleres Licht auf jene Aspekte, die Vogel an Lems futurologischen Überlegungen am brennendsten interessiert haben. Nehmen wir also die von Vogel ausgiebig annotierte, kommentierte, oder salopp gesagt, durchaus beschmierte und von der intensiven Lektüre auch reichlich ramponierte Taschenbuch-Ausgabe der englischen Übersetzung von Stanislaw Lems Fiasco zur Hand, die 1986 in New York bei Harvest Books herausgegeben wurde.

Lems Erzählung ist voll mit der Schilderung von futurologischen Welten, futuristischen Technosphären und logischen Paradoxien aller Art, aber es wäre nicht Lem, wenn dieser absurde Kosmos nicht zum Anlass für sehr menschliche, ethische und philosophische Überlegungen gemacht werden würde. Das erste und entscheidende Problem, vor das sich die wissenschaftliche Überlegung in Lems Erzählung gestellt sieht, ist die Frage danach, warum das Weltall eigentlich schweigt.

"Das Rätsel des Schweigenden Weltalls, des Silentium Universi, wuchs sich zu einem Problem aus, von dem die irdische Wissenschaft sich herausgefordert fühlte." (S. 87)
Stanislaw Lem
In der Untersuchung der Frage, warum das Universum nicht zu den Erdlingen spricht, entwickelt die Menschheit im Verlauf ihrer Geschichte eine Serie von widersprüchlichen Überlegungen, deren Auftakt Lem mit dieser Feststellung zusammenfasst: "Hierher leitete sich die pessimistische Überzeugung von der Einmaligkeit der Erde nicht nur innerhalb der Milchstraße, sondern in den Myriaden anderer Spiralnebel." (S. 88)

Allerdings muss die frühe menschheitsgeschichtliche Annahme mit der fortschreitenden Erkenntnis der Wissenschaften revidiert werden: "In einem Kosmos, der Menschen enthält, mußte die Geburt von Leben außerhalb der Erde zu erwarten sein. So entstanden nacheinander Vermutungen, die die Lebens-trächtigkeit des Weltalls mit dessen Schweigen zu vereinbaren suchten." (S. 89)

Aus diesen neuen Überlegungen folgen zahlreiche Hypothesen über die mögliche Existenz kosmischer Zivilisationen und das ist der Bereich, an dem das Interesse des Lesers Amos Vogel erwacht. Er beginnt ganze Passagen zu markieren und er hebt dabei etwa den Gedankengang hervor, nachdem eine technologische Explosion die Menschheit "nicht nur immer rascher zu immer höheren Fähigkeiten der Herrschaft über die Naturkräfte bringt, sondern [...] die Zivilisationen in zu entlegene Gegenden versprengt, als daß sie sich durch die Gemeinschaft des Denkens verständigen könnten. Eine solche Gemeinschaft ist überhaupt nicht vorhanden. Sie ist ein anthropozentrisches Vorurteil, von den Menschen ererbt aus uraltem Glauben und uralten Mythen. Es kann viel verschiedenartige Vernunft geben, und eben dadurch, daß es so ist, schweigt der Himmel." (S. 90)
Amos Vogel
Es sind epistemische Paradoxe dieser Art, die Amos Vogel ganz besonders interessieren, denn in seiner allgegenwärtigen Skepsis vermutet er hinter allen vermeintlich wissenschaftlichen rationalen Fragestellungen stets einen verborgenen Kern von sozialen und politischen Problemen. Dementsprechend hebt er diese Überlegung hervor: "Die Technologie ist ein Gebiet voller gefährlicher Fallen, und wer es betritt, findet leicht ein böses Ende. Die vernunftbegabten Geschöpfe sind durchaus imstande, diese Gefahr zu erkennen ... aber erst, wenn es zu spät ist." (S. 91)

Angesichts einer solchen, stets drohenden List der technologischen Vernunft, stellt sich in der Erzählung die Frage, ob denn ein Kontakt mit außerirdischen Wesen überhaupt realisierbar sein könnte und Vogel markiert die entsprechenden Ausführungen Lems zu diesem Dilemma, in denen es um das Konzept eines Kontaktfensters geht: "Das ist das Zeitintervall, in dem die Vernunftbegabten schon einen hohen Stand anwendbaren Wissens haben, aber noch nicht an die Umgestaltung der ihnen von Natur gegebenen Vernunft, dem Pendant des menschlichen Gehirns, gegangen sind. Das "Fenster des Kontakts" ist, kosmisch gesehen, nur ein Augenblick. [...] Außerhalb des Fensters herrscht für alle unreifen und überreifen Zivilisationen Schweigen. Die ersteren verfügen für den Kontakt nicht über die Kapazität, die letzteren verkapseln sich." (S. 92)
Fiasko von Stanislaw Lem, S. 260
In Lems Erzählung folgen nun lange Kapitel mit eingehenden Schilderungen über Form und Funktion von unglaublich anmutenden futuristischen Technosphären, raffinierte und grenzgängerische Spekulationen über die Möglichkeit von interstellaren Flügen, und detaillierte Abhandlungen über haarsträubende astrophysikalische Unternehmungen zur trickreichen Ausnutzung von kosmischen Gravitationskräften, um sich an der eigentlich unüberwindbaren Grenze der Lichtgeschwindigkeit vorbeizumogeln. Wir können uns diese Ausführungen getrost ersparen, sie hatten auch Amos Vogel wenig interessiert, denn er notiert offensichtlich verärgert über ganze Passagen: "repetitiv" (S. 246), und "diese Einschübe verlangsamen die Geschichte enorm und sind nicht unbedingt notwendig." (S. 260)
Fiasko von Stanislaw Lem, S. 237
Vogels Interesse an der Erzählung steigert sich schlagartig in dem Augenblick, in dem die lang herbeigesehnte intergalaktische Begegnung mit einer fremden intelligenten Zivilisation endlich gelingt, und die Erdlinge verblüfft feststellen müssen, dass sie mitten in ein kosmisches Kriegsgebiet geraten sind. Damit sind wir in unserer selektiven Lektüre wieder in Bereiche geraten, die Amos Vogel sein ganzes Leben lang genau beobachtet, differenziert reflektiert und kritisch kommentiert: die weiten Sphären ethischer und sozialer Fragestellungen und die daran angrenzenden Gebiete der möglichen und notwendigen Antworten auf die bestehenden gesellschaftlichen Missstände, Verwerfungen und Ungerechtigkeiten. Angesichts der von Lem dargestellten komplexen Herausforderungen des kosmischen Kriegszustandes, in dem sich die endlich erreichte außerirdische Intelligenz befindet, schreibt Vogel an die Buchränder: "Das wird langsam zwanghaft – warum ist es unter diesen Umständen überhaupt noch zwingend notwendig Kontakt aufzunehmen?" (S. 236f.)
Fiasko von Stanislaw Lem, Annotation von Amos Vogel
Erinnern wir zuletzt noch einmal daran, dass der hier kommentierte und annotierte Roman Lems den Titel Fiasko trägt. Das in dieser Erzählung geschilderte Fiasko besteht am Ende darin, dass die Erdlinge bereits durch ihre bloße Ankunft in einen seit langem bestehenden kosmischen Krieg hineingezogen und Teil einer unentwirrbaren und unentscheidbaren kriegerischen Auseinandersetzung geworden sind, ohne dabei die anderen Kriegsteilnehmer überhaupt zu kennen.

Nach ausführlichen philosophischen und theologischen Erwägungen sehen Lems Protagonisten keinen anderen Ausweg mehr als die Auslöschung der gesamten ihnen bis dahin unbekannt gebliebenen extraterrestrischen Zivilisation, um die durch ihre eigene Ankunft verursachte, drohende intergalaktische Ausbreitung des kosmischen Konflikts zu verhindern. Anders formuliert handelt es sich dabei um nichts Geringeres als um einen kaltblütig kalkulierten Genozid, der im Namen eines universalen ethischen Imperativs durchgeführt wird. Amos Vogel kommentiert dieses wahrhafte Fiasko auf den letzten Seiten und dem Innenumschlag des Buches so: "Eine sehr finstere Sicht auf den Menschen und das Universum. Durch seine rücksichtslose, allzu menschliche Neugier [...] wird die endgültige Katastrophe herbeigeführt – die, wie alles andere im Buch, vermeidbar gewesen wäre. [...] Eine großartige Leistung – sehr traurig." (S. 322f.)


Von Tom Waibel


Literatur:

Stanislaw Lem, Fiasko, New York: Harvest Books 1986.
Für die deutschen Zitate wurden die Übersetzungen von Hubert Schumann verwendet (Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000).