Sergej Eisenstein
1. bis 23. Juni 2006
Der Einfluss von Sergej Eisenstein (1898–1948) auf das Kino ist unvergleichlich: Seine Theorie der Montage war ebenso bahnbrechend wie seine praktischen Umsetzungen. Obwohl das Gesamtwerk schmal blieb – er vollendete sieben Langfilme – ist seine Wirkung ungebrochen.
„Die Hafentreppe von Odessa“ in Panzerkreuzer Potemkin (1925) ist zum emblematischen und vielzitierten Bild für Eisensteins Kino-Ideen geworden. Sie bildet aber nur die Spitze des Eisbergs im Werk eines Universalgelehrten, der Einflüsse aus allen anderen Künsten ebenso wie aus Religion, Anthropologie und Psychologie im Kino zu vereinen trachtete und damit eine entscheidende Grundlage für den weiteren Verlauf des Mediums schuf.
Eisenstein entstammte einer jüdischen Architektenfamilie und wurde erst durch den Bürgerkrieg im Jahr 1918 politisiert. Als Baumeister an die Ostfront abkommandiert, kam Eisenstein zum ersten Mal in Kontakt mit der japanischen Kultur, die einen dauerhaften Eindruck bei ihm hinterließ.
Insbesondere die Ideogramme der Zeichenschrift, deren Bedeutung sich je nach Kombination der einzelnen Symbole verändert, erwiesen sich als prägend für Eisensteins Ideen zu einer dialektischen Montage: Der Schnitt ermöglicht eine Synthese; aus der Gegenüberstellung zweier Einstellungen wird eine dritte, höhere symbolische Bedeutung gewonnen: Die Niederschlagung eines Arbeiteraufstands am Höhepunkt von Eisensteins Debüt Streik (1924) wird mit Bildern einer Viehschlachtung kontrastiert.
Beim Proletkult-Theater, wo er nach Kriegsende eher zufällig als Kulissenmaler und -konstrukteur gelandet war, stieg Eisenstein Anfang der zwanziger Jahre schnell zum Regisseur auf, aber das Medium Theater war ihm zu unflexibel. Unter dem Einfluss von Dziga Vertovs experimentellen Wochenschauen und Lev Kulešovs Montage-Theorien wandte er sich dem Film zu.
Der Auslandserfolg von Streik brachte ihm einen neuen Filmauftrag ein, der die Revolution von 1905 zum Thema hatte. Panzerkreuzer Potemkin wurde weltweit als Instant-Meilenstein gefeiert und erhob Eisenstein in den Rang einer globalen Berühmtheit. Der Folgeauftrag zu einem Film über die Oktoberrevolution führte jedoch zu ersten Problemen mit der Staatsbürokratie: Oktober ist die umfassendste Demonstration von Eisensteins Schnitt-Konzepten, aber kurz vor der Premiere musste er den Film radikal kürzen, um den in Ungnade gefallenen Hauptprotagonisten Trotzki zu entfernen.
Eisensteins „Kollisions-Montage“ und der intellektuelle Panoramablick auf die Revolution wurden als „formalistisch“ attackiert. Auch im folgenden Hymnus auf die Kollektivierung der Landwirtschaft (Die Generallinie, 1929) musste er Änderungen zulassen.
Die anschließende Auslandsreise resultierte trotz eines Hollywood-Vertrags nur in unvollendeten Werken, darunter der Episodenfilm Qué viva México!, dessen Material ohne Eisensteins Zutun in mehreren Fremdversionen ausgewertet wurde. Nach Moskau zurückgekehrt, musste er seinen ersten Tonfilm Die Bežin-Wiese wegen Partei-Unmuts und seiner Herzkrankheit abbrechen.
Erst mit dem unter strenger Überwachung hergestellten Heldenepos Aleksandr Nevskij (1938) konnte Eisenstein – auch dank der engen Zusammenarbeit mit dem Komponisten Sergej Prokofjev – die Ideen aus seinem „Tonmanifest“ von 1931 umsetzen. Als „reformierter“ Künstler durfte er nun mit dem Dreiteiler Ivan der Schreckliche beginnen. Stalin war vom ersten Teil (1944) noch sehr begeistert, lehnte aber die zunehmend vielschichtige und zwiespältige Darstellung des Tyrannenherrschers im zweiten Teil (1946-48) ab.
Eisenstein selbst erlitt nach Beendigung der Montage einen Herzanfall, von dem er sich nie mehr erholte. Das Abschiedswerk bleibt – auch ohne dritten Teil – eine singuläre Errungenschaft. In seiner extremen, an Ikonen-Malerei und am Kabuki-Theater geschulten Stilisierung und der für Eisenstein gänzlich neuartigen Erzählweise ist der Film ein Vermächtnis dessen, was der Kino-Revolutionär Sergej Eisenstein noch zu leisten imstande gewesen wäre.
Ein Höhepunkt der Retrospektive ist die Österreich-Premiere der von Enno Patalas und dem Filmmuseum Berlin rekonstruierten Premierenfassung von Panzerkreuzer Potemkin. Sie wird begleitet von der Neueinspielung der Filmmusik von Edmund Meisel, die für den Welterfolg des Films mitverantwortlich war. Darüber hinaus präsentiert Martin Reinhart am 2. Juni erste Beispiele zu der in Wien aufgefundenen Nadeltonfassung (1930) des Films, die derzeit ebenfalls rekonstruiert wird.