(Sich) Anders sehen

Erinnerungskonstruktionen in Amateurfilmen aus dem Nationalsozialismus

Verfasserin: Sandra Ladwig
 
Studiengang Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien
Erstgutachter: Univ.-Ass. Dr. Vrääth Öhner

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit einem Korpus von Familien- und Amateurfilmen aus der Sammlung des Österreichischen Filmmuseums. Das in den 1930er und 1940er Jahren entstandene Filmmaterial wurde dem ÖFM von der "Familie Haller" 2003 übergeben und soll nun aus einer filmwissenschaftlichen Perspektive untersucht werden. Während des Entstehungsprozesses dieser Diplomarbeit konnte kein Kontakt zu den ÜberbringerInnen hergestellt werden, sodass keine biografischen Informationen durch (ehemals) Beteiligte einfließen, sondern ausschließlich das Filmmaterial den Ausgangspunkt für die geführten Auseinandersetzungen bildet. Zum einen werden die ästhetischen Ambitionen in den Familienfilmen aus Wien(-Umgebung) im Kontext damaliger Handbuchliteratur in den Blick genommen und zum anderen die familial-intimen Erinnerungskonstruktionen in ihrem Verhältnis zu geschlechtsspezifischen Konventionen und öffentlichen wie privaten Sphären diskutiert. Die in den Filmen konstruierte (und inszenierte) Wirklichkeit gerinnt zu einer idealisierten Vergangenheit für die Zukunft, sodass die narrativen Bruchstücke in dieser kulturellen wie sozialen Praxis gleichzeitig auf die Leerstellen des Familien(film)lebens verweisen.

In einem weiteren Teil der Arbeit werden die Filme, die Haller als Wehrmachtssoldat in Nordfrankreich und Russland gedreht hat, thematisiert und in ihrem veränderten Entstehungszusammenhang verortet. Anhand der aufgezeichneten Feldpostnummer konnten grobe historische Kontextualisierungen für Hallers Einheit vorgenommen werden. Da nicht ausschließlich der "dauerhafte Ausnahmezustand" des Krieges für die Veränderungen in der Motivwahl verantwortlich gemacht werden kann, werden zudem Ansätze entwickelt, die das – häufig nicht zu entwirrende – Geflecht von privatem und militärischem Bereich, von Selbstdarstellung und "Dienstpflichten" anhand der Aufnahmen aus der Wehrmachtszeit bestimmen. An eine kollektive Geschichte geknüpft sind diese (nur bedingt) privaten Aufnahmen im Spannungsfeld von Inszenierung und Dokument zu verstehen, um im Weiteren ideologische Gesichtspunkte in die Betrachtung miteinzubeziehen. Ideologisierung vollzog sich laut Petra Bopp (und Bernd Boll) auch über die Förderung von Amateurfotografien (und ähnliches kann für Amateurfilme angenommen werden) durch die militärischen Institutionen, sodass private Aufnahmen in die Propagandakompanien und vice versa gelangten. Diese Erkenntnisse sowie der für die Familienfilmpraxis herausgearbeitete gemeinschaftsstiftende Sinn – der sich nun hin zum Wehrmachtskollektiv verschiebt – geben Anlass, um Hallers Amateurfilme aus dem Zweiten Weltkrieg auf den Zusammenhang von sichtbarer subjektiver Verortungen und ideologischem Gehalt hin zu untersuchen. Abschließend werden Aufnahmen, die Gräueltaten des deutschen Vernichtungskrieges dokumentieren, in subjekttheoretische Überlegungen eingebettet, um sich dem äußerst ambivalenten Konvolut in seinen komplexen Bedeutungsebenen anzunähern.