Der Weg der Termiten
Beispiele eines Essayistischen Kinos 1909-2004
1. bis 31. Oktober 2007
Die gemeinsame Retrospektive der Viennale und des Filmmuseums widmet sich heuer dem Film-Essay. Das umfangreiche Programm – rund 60 Arbeiten aus 20 verschiedenen Ländern – wurde von dem Filmemacher und Theoretiker Jean-Pierre Gorin kuratiert, dessen eigenes Schaffen (zum Teil gemeinsam mit Jean-Luc Godard) wesentliche Beispiele für diese Gattung enthält.
Jenseits charakteristischer und oft zitierter Elemente – z.B. die im Film präsente Stimme des Autors oder die dezidierte Ich-Form, in der viele dieser Werke gestaltet sind – ist der Film-Essay für Gorin vor allem eine Art des "Umherschweifens": die "mäandernde Bewegung einer Intelligenz, die versucht, die möglichen Zugänge zum Material zu vervielfachen.
Der Film-Essay ist Überschuss, Abweichung, Bruch, Ellipse und Kehrtwendung. Er ist, kurz gesagt, eine Art des Denkens. Aber weil es sich um Film handelt, ist es ein Denken, das sich in Emotion verwandelt und wieder zurück in einen Gedanken". Der Film-Essay "kokettiert dabei mit den verschiedensten Genres – Dokumentation, Pamphlet, Erzählung, Tagebuch ..." – ohne sich auf eines davon zu beschränken. "Er ist, was Form und Inhalt anbelangt, pure Widerspenstigkeit."
Das Programm reicht von kanonischen Namen – Griffith, Buñuel, Vertov, Welles, Godard, Rouch, Pasolini, Duras, Rocha, Resnais, Kluge, Ôshima, Akerman, Moretti – bis hin zu Filmemachern wie Leo Hurwitz, Nicole Védrès, Marta Rodríguez, Mohamad Malas, Edgardo Cozarinsky oder Ralph Arlyck, deren besondere und bezwingende "Stimmen" noch zu wenig Widerhall in der Filmkultur gefunden haben.
Mittendrin finden sich jene Künstler, die in ihrem Gesamtwerk den Begriff des Essayistischen Kinos vielleicht am klarsten ausformulieren: der Holländer Johan van der Keuken, die Franzosen Guy Debord und Chris Marker, der Brite Patrick Keiller, der exilierte US-Amerikaner Robert Kramer oder der nach Schweden emigrierte Deutsche Peter Nestler.
Sie alle sind "Termitenkünstler" – ein Ehrentitel, den sich Gorin bei seinem Freund, dem legendären Kritiker Manny Farber ausgeliehen hat: Im Gegensatz zu den "Weißen Elefanten" unter den Filmemachern sind die Termitenkünstler extrem bewegliche Wesen, die immer neue, unvermutete Wege finden.
Sie haben keinen Respekt vor den traditionellen Gattungen, Regeln und Darstellungsweisen des Films; sie trachten danach, "die unmittelbaren Begrenzungen ihrer Kunst aufzufressen und diese Grenzen zu den Bedingungen der nächsten Arbeit zu machen" (Farber).
Gorin betrachtet den Film-Essay als die langlebigste und ursprünglichste Form des Kinos: "Man findet ihn bereits in den Anfängen, bei A Corner in Wheat, aber ein paar Jahre später klagt Griffith schon darüber, dass das Kino sich davon entfernt habe, die Bewegung des Winds in den Zweigen der Bäume zu filmen.
Es vergehen zwanzig Jahre und zehn Tage, die die Welt erschüttern, und wir sehen in Vertovs Der Mann mit der Kamera, wie der Essay triumphiert." Nach dem Faschismus und Stalinismus dauert es eine Weile, bis der essayistische Film wieder an Kraft gewinnt, doch in den 70er und 80er Jahren bildet er ein zentrales Energiefeld im europäischen Kino.
"Und wenn man sich dann fragt, ob der Essay nicht einfach nur eine Mode des Westens sei, erscheint er in Asien, im Werk von Ôshima, Weerasethakul oder bei Kidlat Tahimik (Der parfümierte Alptraum). Und sobald man ihn dort festnageln will, entwischt er in den Nahen Osten oder nach Südamerika ..."
Für Gorin ist der Film-Essay eine wesentlich politische und der Freiheit zugewandte Kunstform: "Wie aussichtslos auch immer die Umstände sind, der Essay lebt in den Randbereichen weiter, als eine Art 'Es', das durchs Kino spukt. Je größer die Unterdrückung ist und je mehr die herrschende Ästhetik alles andere verdrängt, desto lebendiger ist der Film-Essay. Kurz gesagt: Es könnte genau der richtige Zeitpunkt sein, sich darüber Gedanken zu machen."
Zur Schau erscheint ein Katalog über den Film-Essay, der Texte zu den ausgewählten Werken und Künstlern sowie einen Aufsatz von Jean-Pierre Gorin enthält.
Erstmals ist es in diesem Jahr möglich, Tickets für die gemeinsame Retrospektive auch im Viennale-Vorverkauf zu beziehen, zu den Preisen der Viennale. Das Reglement des Filmmuseums (Mitgliedschaften, Zehnerblock) gilt natürlich auch weiterhin, ist aber aus organisatorischen Gründen nur für Tickets anwendbar, die im Filmmuseum selbst gelöst werden.