„My whole life has been movies and religion“, hat der 1942 in New York geborene, in katholisch-italoamerikanischem Umfeld aufgewachsene Scorsese gesagt: Als junger Mann ging er aufs Priesterseminar, geworden ist er dann doch Filmemacher, aber die Idee der Spiritualität pulsiert durch sein Schaffen, augenscheinlich kulminierend in seinen außergewöhnlichen Filmen über Jesus (The Last Temptation of Christ) und den Dalai Lama (Kundun). Aber auch seine anderen Hauptfiguren sind auf der Suche nach Erlösung, fast ausnahmslos Getriebene, Außenseiter und Schmerzensmänner, gleichermaßen ikonisch und gebrochen – vom neurotischen Macho in seinem Spielfilmdebüt Who's That Knocking at My Door (1965-68) bis zu den getarnten Spitzeln im verspäteten Oscar-Erfolg The Departed (2006). Sie erfüllen ihre Mission – um jeden Preis: der amoklaufende Vietnam-Veteran Travis Bickle in Taxi Driver, der Möchtegern-Komiker Rupert Pupkin in The King of Comedy, der Boxweltmeister Jake La Motta in Raging Bull oder der zweifelnde Kleingangster Charlie in Mean Streets, wo Scorsese zum ersten Mal filmisch in die Welt jener Mafiosi eintauchte, die ihn als Kind in Little Italy fasziniert hatten.
In Mean Streets gehen die psychologisch reiche Schilderung des Gewissenskonflikts und die atmosphärisch detaillierte Konstruktion des Milieus bereits Hand in Hand mit energischer Virtuosität: Die Widersprüche der Charaktere reizen Scorsese ebenso wie die sozialen; seine Filme reiben sich und wachsen daran, sind packend, physisch, dabei paradox reflexiv, erzählen zugleich vom Innen und Außen, von der Welt und vom Kino. Schon als kränklicher Bub hat Scorsese im Fernsehen die Genrefilme der Hollywoodstudios zusammen mit dem neorealistisch geprägten Kino Italiens aufgesaugt, unter diesen Einflüssen zeichnet sich bereits in den ersten Kurzfilmen sein spezielles audiovisuelles Genie ab: der intuitive Umgang mit Musik, die aggressive Intensität der Inszenierung und die Gabe für griffige Metaphorik. Scorseses fünfminütiger „Vietnamkommentar“ The Big Shave zeigt nur einen jungen Mann, der sich das Gesicht zerschneidet (zu einer fröhlichen Swingnummer: Gewalt und Komik schließen sich bei Scorsese keineswegs aus, das belegen gerade die Komödien). 35 Jahre später umschreibt im gewaltigen Gründerzeitepos Gangs of New York eine atemberaubende Kamerafahrt die große Fehlstelle des Films, den US-Bürgerkrieg, der im Landesinneren tobt: Soldaten werden auf ein Schiff verfrachtet, während Särge zurückkommen.
Scorseses Kino ist auch ein persönlicher Spiegel amerikanischer (Film-)Geschichte: Die subtile Schilderung des soziokulturellen Gefängnisses von New Yorks besserer Gesellschaft des 19. Jahrhunderts (im meisterhaften Melodram The Age of Innocence) steht in seiner Filmografie neben dem angemessen ambivalenten Abgesang auf den American Dream im Las Vegas der 1970er und 80er Jahre (im Opus magnum Casino). Der persönliche Zugang prägt auch die Dokumentarfilme, die Scorsese häufig zwischen den großen Erzählungen dreht. Er befragt seine Eltern über ihr Leben (in Italianamerican), lädt zu Reisen durchs Kino Amerikas und Italiens oder folgt seiner Liebe zur populären Musik: Er dreht Filme über Konzerte von The Band (The Last Waltz) und den Rolling Stones, folgt den Wurzeln des Blues-Idioms nach Afrika oder arrangiert ein monumentales Montage-Mosaik aus Archivmaterial zu Bob Dylan. Die Musik liefert stets den Herzschlag für Scorseses Filme, dem Zusammenspiel von Bild und Ton gewinnt er immer neue Facetten ab. So erweist er in New York, New York dem klassischen Musical seine Reverenz, durchmisst in Goodfellas emblematisch die Zeit vom perlenden Popsound der Fifties zur psychedelischen Paranoia der Seventies, bevor Sid Vicious mit „My Way“ den Punk-Schlussstrich zieht, oder orchestriert Raging Bull auch als große Oper, vom Trommelrhythmus der von Tierfauchen begleiteten Faustschläge bis hin zu Schreiduell-Arien in Duetten und Terzetten.
Langjährige fruchtbare Partnerschaften (am prominentesten wohl mit Schauspielstar Robert De Niro und Cutterin Thelma Schoonmaker) haben Scorseses exzeptionelle Laufbahn begleitet, aber seine Handschrift ist letztlich so unverwechselbar wie seine Obsessionen – es steckt auch ein Selbstporträt im zwanghaften Howard Hughes, den Scorsese 2004 in The Aviator entwirft. So wie dessen Flugzeuge oder die Autos von Chevrolet, wie die musikalische Poetik Bob Dylans oder die Kunst von Andy Warhol ist die „Scorsese Machine“ zu einem essenziellen Produkt der amerikanischen Kulturgeschichte geworden.
Unser besonderer Dank gilt Martin Scorsese, Kent Jones, Mark McElhatten, Emma Tillinger, Marianne Bower und Thelma Schoonmaker, die das Zustandekommen dieser Retrospektive ermöglicht haben.
Die Schau findet mit Unterstützung der U.S. Embassy statt.