Die Früchte des Zorns und der Zärtlichkeit: Jean-Marie Straub / Danièle Huillet und ausgewählte Filme von John Ford
1. bis 31. Oktober 2004
„Die Kamera in die Welt hinauszutragen, mitten ins Dickicht der konkreten Dinge, ist ein vitaler Impuls für Filmemacher wie Ford und Straub/Huillet. Sie geben sich nicht mit dem äußeren Anstrich zufrieden; sie versuchen, der Realität etwas Reicheres und Fremderes abzugewinnen. Etwas, das kraftvoll und folgenschwer ist, und das sich zugleich dem Versuch einer kohärenten Darstellung widersetzt. Je näher man sich mit der Wirklichkeit befasst, desto schwieriger wird die Aufgabe, ihr Sinn und Form zu geben.“ (Gilberto Perez)
Die gemeinsame Retrospektive der Viennale und des Filmmuseums präsentiert erstmals in Österreich das Gesamtwerk der radikalen europäischen Filmemacher Jean-Marie Straub und Danièle Huillet. Erweitert wird die Schau um eine große Auswahl von Filmen des klassischen amerikanischen Regisseurs John Ford. Straub/Huillet, die diese Auswahl getroffen haben, bewundern Fords „geradezu dokumentarische“ Klarheit im Ausdruck ebenso wie den „einzigartigen, außergewöhnlichen Reichtum“ seiner Gesellschaftsentwürfe.
Jean-Marie Straub (1933 in Metz geboren) wächst französischsprachig auf, muss aber während der Nazi-Kriegsbesatzung Deutsch lernen. Er studiert in Strassburg und Nancy Literatur und geht 1954 nach Paris, wo er als Assistent für Jean Renoir, Alexandre Astruc, Abel Gance und Robert Bresson tätig ist. Dort lernt er auch seine spätere Frau Danièle Huillet (geboren 1936 in Paris) kennen. Alle ihre Filme sind gemeinsame Realisationen.
Um Straubs Einberufung in die Armee – d.h. seiner Teilnahme am Algerienkrieg – zu entkommen, gehen die beiden 1958 nach Deutschland. Hier beginnt ihre eigenständige Filmarbeit, mit den Heinrich-Böll-Adaptionen Machorka-Muff (1962) und Nicht versöhnt (1965), die – abgesehen von wenigen Fürsprechern wie Jean-Luc Godard – auf extreme Ablehnung stoßen. Ihre radikale Vorgangsweise wird als „dilettantisch“ kritisiert. Erst mit dem folgenden Film, der unkonventionellen Musiker-Biografie Chronik der Anna Magdalena Bach (1967) beginnt eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem strikt materialistischen und politischen Schaffen von Straub/Huillet.
In den nächsten dreieinhalb Dekaden pendeln sie zwischen Italien, Frankreich und Deutschland. Sie bearbeiten konsequent literarische und musikalische Vorlagen: ein kaum bekanntes Corneille-Drama (Othon); einen Brief und zwei Opern von Arnold Schönberg (Einleitung zu Arnold Schoenbergs Begleitmusik zu einer Lichtspielscene, Moses und Aron und Von heute auf morgen); Werke von Brecht (Geschichtsunterricht), Kafka (Klassenverhältnisse), Hölderlin (Der Tod des Empedokles); Texte von Marguerite Duras (En rachâchant) und Elio Vittorini (wie z.B. Sicilia!) – aber auch jene des Cézanne-Biographen Gasquet, wie in ihrem neuesten Werk Une visite au Louvre. Die Österreich-Premiere dieses Films bildet den Auftakt der Retrospektive am 1. Oktober.
Die spezifische Ästhetik von Straub/Huillet ist dazu angetan, herkömmliche Spielfilmbegriffe wie „Handlung“ und „Spannungsbögen“, „Identifikation“ und „Illusion“ neu zu besetzen. Ihre Filme bieten ein gänzlich transparentes Schau-Spiel und verlangen vom Zuschauer in gleichem Maße Schau-Arbeit: die Arbeit an (und das Spiel mit) den verschiedenen Schichten der Wirklichkeit. Komplexe historisch-politische Zusammenhänge; dokumentarisch aufgezeichnete Realschauplätze; literarische Texte, die an diesen Orten lebendig werden; Laiendarsteller, die die Texte in brüchiger Intonation vortragen. Daraus entsteht häufig ein bezwingender, trance-artiger Rhythmus, in dem die Natur (der Wind, das Sonnenlicht, die Blätter der Bäume) und das von Menschen Gemachte (Dichtung, Schauspiel, Geschichte, Politik) miteinander tanzen.
Der ursprüngliche Vorwurf, die Filme von Straub/Huillet seien „unfilmisch“, führt am Wesen ihres Werks vorbei: Tatsächlich handelt es sich bei ihnen um bedeutende „Erfilmer“. So wie die großen Autoren sich und uns die Welt erschreiben, „erfilmen“ Straub/ Huillet das ausgewählte historische und literarische Material. Sie respektieren die Textvorlage in hohem Ausmaß, legen aber deren Politik frei und stellen die filmische Interpretationsarbeit offen aus. Besonders deutlich wird dies etwa bei der Adaption von Franz Kafkas „Amerika“-Fragment. Den üblichen kafkaesken, metaphysisch-alptraumhaften Kinobildern halten sie ganz massiv Kafkas soziale Beobachtungsgabe entgegen: Klassenverhältnisse.
Eklektisch wie ihr Schaffen ist auch die John-Ford-Auswahl, die Straub/Huillet für die Retrospektive vorgeschlagen haben. Einige der berühmtesten Ford-Klassiker fehlen, statt dessen zeichnet die Auswahl – über lange vernachlässigte und teils äußerst rare Arbeiten – ein groß angelegtes Porträt des Dialektikers Ford, der gern zugunsten des Romantikers übergangen wird. Von frühen Western (Just Pals, The Iron Horse, 3 Bad Men) bis zu vielschichtigen Entwürfen über Gesellschaft und Bürgerpflicht (z.B. das mitreißende Gefängnisdrama The Prisoner of Shark Island oder das melancholische Wahlkampf-Dorfporträt The Sun Shines Bright). Von den Meisterwerken über Krieg und militärisches Leben (They Were Expendable, She Wore a Yellow Ribbon oder The Horse Soldiers) bis hin zu Filmen über Freiheit (Donovan’s Reef) und Widerstand (The Grapes of Wrath oder 7 Women). Ein weites, widersprüchliches, keine Sekunde lang billiges Panorama der USA zwischen 1860 und 1960. Und darüber hinaus: Wer dieses Land heute, in einer zugespitzten Nachkriegs- und Vorwahlzeit, vorschnell verachtet (oder feiert), findet bei Ford genügend Gründe für ein komplexeres Urteil.
„John Ford wird heute vielfach als nostalgischer Konservativer angesehen“, schreibt Gilberto Perez. „Aber seine Sehnsucht richtete sich nicht auf etwas, das einstmals am ‘Platz‘ war und Geltung beanspruchte (oder gar nur in der Einbildung existierte). Er schaute zurück auf eine Vergangenheit, die auf eine Zukunft voraus schaute. Seine Hochachtung galt den Ausblicken, dem Streben, dem mühevollen Ringen. Er feierte das Offene und Unfertige – wie den kärglichen, unbebauten Kirchplatz, wo Wyatt Earp für alle Zeit mit Clementine tanzen wird.“
Vielleicht ist es diese Zärtlichkeit (aber auch die Fähigkeit zum Zorn), die Ford mit Jean-Marie Straub und Danièle Huillet teilt. Den Sinn für das Offene, für das noch nicht Entschiedene in der Geschichte.