Die Utopie Film: 100 Vorschläge
1. bis 30. September 2004
Die Spielzeit des Filmmuseums beginnt heuer bereits am 1. September, mit einem „Festprogramm“, das zum 40jährigen Bestehen des Hauses entwickelt wurde. Es widmet sich nicht einer einzelnen Epoche, Stilrichtung oder Künstlerpersönlichkeit, sondern dem ganzen Kino. Die Utopie Film versteht sich als praktischer Beitrag zum unterschwelligen Jahresthema – Filmgeschichtsschreibung und Kanonisierung. 100 Vorschläge, das sind hundert herausragende Filme von hundert Filmautor/innen, die miteinander ins Gespräch treten. Entstanden sind diese Arbeiten zwischen 1903 und 2002, auf allen Kontinenten, in sämtlichen Sprechweisen des Films. Zusammen bilden sie die Einladung zu einer einmonatigen Abenteuerfahrt – quer durch die Geschichte des Films und quer durch das 20. Jahrhundert.
Im Jahr 1964, unter dem Eindruck einer von „Großfilmen“ und Marketing-Wahn zugeschütteten Kinogegenwart, schreibt Alexander Kluge: „Wenn es die Literatur nicht gäbe, sondern nur jährliche Verlagsprogramme, so könnte sich keiner die Utopie vorstellen, die im Werk Melvilles, Balzacs, Flauberts, Döblins enthalten ist; Joyce wäre unzulässig. Für den Film hat die Phantasie keine Stütze in der Geschichte. Die Utopie Film, d.h. die Vorstellung, dass es außer der ungenügenden augenblicklichen Gegenwart noch etwas anderes geben könnte, hat sich bisher nicht entfalten können. Das, was an Versprechen in der Filmgeschichte enthalten ist, ist zuwenig bekannt.“
Im selben Jahr 1964 gründeten Peter Konlechner und Peter Kubelka das Österreichische Filmmuseum, eines der ersten Häuser im deutschsprachigen Raum, das sich zu einer systematischen, umfassenden und historisch reflektierten Darstellung des Mediums Film bekannte. Seit damals haben nicht nur die Filmmuseen, sondern auch die insgesamt expandierende Filmkultur sowie neue Vertriebswege (Video, DVD, Fernsehen) zu einer Verbesserung der Lage beigetragen – zumindest quantitativ. Aber mehr denn je ist es zweifelhaft, ob „das, was an Versprechen in der Filmgeschichte enthalten ist“, wirklich wahrgenommen wird. Vieles ist weiterhin nicht zugänglich, vieles nur in einer zusammenhanglosen Form, um entscheidende Qualitäten beschnitten. Daher besteht nach wie vor die Notwendigkeit, die kaum bekannten Versprechen des Films aufzurufen – und zwar so, dass sie „einlösbar“ bleiben: lebendig, brauchbar, in einen Zustand der Spannung versetzt. Das Septemberprogramm des Filmmuseums ist ein Versuch zu diesem Thema.
Jeder der hundert ausgewählten Filme kann als einzelner in seinem besonderen Reichtum bestehen: „vor der Geschichte“ und vor dem zeitgenössischen Blick. Aber die Auswahl ergibt auch einen Zusammenhang, eine Perspektive. Stellen Sie sich eine Geschichte des Films vor, die nicht allein aus warenförmig abgepackten, luftdicht isolierten und am Markt bestens eingeführten „Klassikern“ besteht. Stellen Sie sich die Geschichte des Films als eine andauernde Infektion vor, die von Film zu Film geht – aber zugleich auch vom Kino zur Gesellschaft (und wieder retour). Stellen Sie sich eine Geschichte vor, in der Filme an die Lebensrealität und an die Wünsche der Menschen rühren und davon angerührt werden. Eingeschrieben ins Kino: die Stadt, die Bewegung, die Arbeit, der Krieg, die Freiheit, die Angst, das sexuelle Begehren, Ausbeutung und Aufruhr, die Fremdheit, die Solidarität, die Schaulust und die Lust an der Sprengung.
Der kürzeste und der längste Film des Programms – eine anonyme Fahrt durch Wien (1907) und Chris Markers Le Fond de l’air est rouge (1977/93) – künden von zwei extremen Formen der Sichtbarmachung durch Film: einerseits die reine Freude am Schauen und an der physischen Bewegung, repräsentiert von einer Kamera, die sich von der Straßenbahn aus an die Welt richtet; andererseits der umfangreiche und komplexe Essay über die politischen Bewegungen der 60er und 70er Jahre, gestaltet aus eigenen und gefundenen Bildern und einem ganzen Arsenal von Assoziationen, Kontrasten und historischen Gedankenblitzen.
Dazwischen liegt das große Potential und die widersprüchliche Kraft des Kinos: vom wissenschaftlichen Film, der den unmöglichen Blick ermöglicht (Röntgentonfilm der Sprache) bis zum Film über die Konzentrationslager, der eine Vorstellung vom Unvorstellbaren versucht (Die Todesmühlen und Andrzej Munks Pasażerka). Vom Western in der Manier eines Dokumentarfilms (The Big Trail von Raoul Walsh) bis zum Dokumentarfilm in der Manier eines Western (Eduardo Coutinhos Cabra marcado para morrer). Vom Aktions- zum Animationsfilm. Vom mitreißenden Slapstick-Kino aus der frühen UdSSR (bei Boris Barnet und Alexander Medwedkin) bis zum kommunistischen Kriminalfilm aus der US-Nachkriegszeit (Force of Evil von Abraham Polonsky).
Das Kino zeichnet noch am entlegensten, „virtuellsten“ Ort eine Geschichte der Mentalitäten und gesellschaftlichen Bewegungen auf, zwischen dem Jahrhundertwendetraum der Alice in Wonderland (1903) und den Alpträumen vom Cyberspace 100 Jahre später, in Olivier Assayas‘ Demonlover (2002) – dem ältesten und dem jüngsten Film der Schau. Die Fähigkeit des Films, konkrete Orte, Geschehnisse und Verhältnisse zu erfassen, ergibt sich nicht allein aus den fotografischen Abbildern des Realen, sondern vor allem aus dem Imaginären, den Vorstellungen, die die Filmmacher und die Filmzuschauer, die Geschichten und die Geschichte miteinander teilen. In diesem Sinn ist das Kino immer dokumentarisch und phantastisch zugleich; das eine vibriert im anderen.
Ein weiteres Motiv bei der Programmauswahl war es, den wichtigen Wiederentdeckungen und Akzentverschiebungen in der internationalen Filmgeschichtsschreibung der letzten zehn, zwanzig Jahre zum Ausdruck zu verhelfen. Beispiele dafür sind etwa die Filme von Guy Debord, Boris Barnet, Fei Mu, Richard Massingham; oder das europäische Kino der 1910er Jahre, vertreten durch drei herausragende – in Österreich bislang praktisch unbekannte Inszenatoren: Evgenji Bauer, Alfred Machin und Franz Hofer. Dasselbe gilt für Werke wie Khaneh siah ast (The House is Black), 1963 von der iranischen Dichterin Forugh Farrokhzad in einer Leprakolonie gedreht; oder für Kent Mackenzies Film The Exiles (1958-61) über eine Gruppe junger, entfremdeter Arizona-Indianer in Los Angeles, der von dem Filmemacher Thom Andersen kürzlich ans „Tageslicht” befördert wurde und als rares Pendant zu John Cassavetes’ Shadows angesehen werden kann.
Zuletzt ist „Die Utopie Film“ auch eine Art Brennglas für die Programm- und Sammlungspolitik des Filmmuseums. Verknüpfungen mit Projekten der letzten Jahre und „Vorschaufenster“ auf geplante Retrospektiven haben ebenso Anteil an der Auswahl wie die Schwerpunkte der bestehenden und jüngst stark erweiterten Filmsammlung (inklusive einiger Desiderate, Werke, die das Filmmuseum in nächster Zeit zu erwerben trachtet). Für solche Verbindungen stehen etwa die ausgewählten Filme von Lisandro Alonso, Santiago Alvarez, Hanus Burger, Claude Chabrol, Carl Theodor Dreyer, Jean Epstein, Jean Eustache, Harun Farocki & Andrei Ujica, R.W. Fassbinder, John Ford, Robert Frank, Su Friedrich, Ritwik Ghatak, Jean-Luc Godard, Cecil Hepworth, Werner Hochbaum, Hamlet Hovsepyan, Humphrey Jennings, Chuck Jones, Abbas Kiarostami, Akira Kurosawa, Laurel & Hardy, Malcolm LeGrice, Barbara Loden, Jean Renoir, Djibril Diop Mambéty, Richard Massingham, Jean-Pierre Melville, Marie Menken, Nanni Moretti, Kenji Mizoguchi, Max Ophüls, Kathrin Resetarits, Christian Schocher, Paul Schrader, Elisaveta Svilova und Juli Raisman, Gaston Velle, Wim Wenders.
Die Utopie Film ist eine Probe auf den Film, aus Sicht der Programmgestalter wie aus jener des Publikums und der Kommentatoren: Was trägt das Kino? Eine solche Probe braucht vor allem Neugier: den offenen Zugang zu einem offenen Unternehmen.
Im Verlauf des Monats wird jeder der hundert Filme einmal gezeigt. Einige Programme gehen über die „übliche Länge“ hinaus; sie versammeln mehrere Filme und enthalten eine Pause. An vier Wochenendterminen zeigen wir Stummfilmprogramme mit Klavierbegleitung von Gerhard Gruber. An vier Donnerstagen finden – jeweils um 18 Uhr – Gespräche mit Gästen statt, die in ihren jeweiligen Arbeitsfeldern kontinuierlich mit der Problematik von Auswahl, Kontextualisierung und der Forcierung filmhistorischer Positionen befasst sind: Christa Blümlinger (Université Paris 3), Hans Hurch (Viennale), Claus Philipp (Der Standard) und Norman Shetler (Alphaville).