Collection on Screen:
Neorealismo
4. September bis 17. Oktober 2021
Die neorealistische Bewegung aus Italien bleibt die einflussreichste der Filmgeschichte, obwohl sie im Kern höchstens zwei Dutzend Filme aus den Jahren 1943 bis 1953 umfasst, von denen viele Schlüsselwerke in der Sammlung des Österreichischen Filmmuseums sind. Die Idee des neoverismo brachte sowohl eine Umwälzung des Selbstverständnisses von Kino als Volkskunst mit sich – gleichermaßen populär, wirklichkeitsnah und bedeutsam – als auch eine Revolutionierung der Produktionsformen: Man ging buchstäblich auf die Straße und ließ die Künstlichkeit des Studios hinter sich. Dabei mochte der Neorealismus Vorläufer haben (und würde als die Mutter aller "Neuen Wellen" bis heute weiterwirken), doch aus dem historischen Moment heraus wurde er zum Versprechen einer Renaissance: der Wiedergeburt des Kinos nach dem Zweiten Weltkrieg und der Schilderung menschlicher Erfahrung abseits der Konventionen des Unterhaltungskinos à la Hollywood.
Roberto Rossellinis Widerstandschronik Roma città aperta (Rom, offene Stadt, 1945) und ihr Nachfolger Paisà (1946) etablierten den Neorealismus als Zeitzeugen der Befreiung – und die Paradigmen seiner Ästhetik: Gedreht wurde an Originalschauplätzen, ohne künstliches Licht und bevorzugt in langen Einstellungen; die Arbeiterklasse-Protagonist*innen wurden meist von Laiendarsteller*innen, oft auch Kindern verkörpert; es gab offene Enden "wie im wirklichen Leben" statt sauber abgeschlossenen Erzählungen.
Doch die Definition war durchlässig: Luchino Viscontis Ossessione (Besessenheit, 1943) – nachträglich als erstes Meisterwerk des neorealismo inthronisiert – konterkarierte die authentische Milieuzeichnung mit einem kunstfertigen Kamerastil, um die Geschichte des US-Krimiklassikers The Postman Always Rings Twice zu bebildern. Im Fischerepos La terra trema (Die Erde bebt, 1948) fusionierte Visconti den extremen realistischen Impuls vollends mit opernhafter Stilisierung (der ursprüngliche verismo hatte ein halbes Jahrhundert davor im Musiktheater Triumphe gefeiert). Indes hatte Autor Cesare Zavattini als Theoretiker der Bewegung die Idee vom neorealistischen Kino als Reportage des Alltags etabliert: Aber seine Welterfolge mit Regisseur Vittorio De Sica, allen voran Ladri di biciclette (Fahrraddiebe, 1948), waren virtuose Choreografien einer "ungeschminkten" Wirklichkeit und appellierten an universale Emotionen. Wichtiger als alle Reinheitsgebote war letztlich die humanistische Ausrichtung des Neorealismus.
Denn noch während er international als tonangebende neue Strömung gefeiert wurde, hatten sich seine Schlüsselregisseure von den vermeintlichen Prinzipien gelöst. Der Neorealismus war zum Sammelbecken geworden, aus dem sich der Aufbruch in den Autorenfilm (etwa durch Michelangelo Antonioni und Federico Fellini) ebenso speiste wie dokumentarische Impulse (am schönsten bei Vittorio De Seta) und ein volksnahes Unterhaltungskino: gebündelt sichtbar in der Vielfalt der Beiträge zu Zavattinis "Film-Zeitung" L'amore in città (Liebe in der Stadt, 1953). (Christoph Huber)
Mit Herbst 2021 startet das Österreichische Filmmuseum die neue Reihe Collection on Screen, die sich anhand unserer eigenen Sammlung mit Filmgeschichte auseinandersetzt.
Die neorealistische Bewegung aus Italien bleibt die einflussreichste der Filmgeschichte, obwohl sie im Kern höchstens zwei Dutzend Filme aus den Jahren 1943 bis 1953 umfasst, von denen viele Schlüsselwerke in der Sammlung des Österreichischen Filmmuseums sind. Die Idee des neoverismo brachte sowohl eine Umwälzung des Selbstverständnisses von Kino als Volkskunst mit sich – gleichermaßen populär, wirklichkeitsnah und bedeutsam – als auch eine Revolutionierung der Produktionsformen: Man ging buchstäblich auf die Straße und ließ die Künstlichkeit des Studios hinter sich. Dabei mochte der Neorealismus Vorläufer haben (und würde als die Mutter aller "Neuen Wellen" bis heute weiterwirken), doch aus dem historischen Moment heraus wurde er zum Versprechen einer Renaissance: der Wiedergeburt des Kinos nach dem Zweiten Weltkrieg und der Schilderung menschlicher Erfahrung abseits der Konventionen des Unterhaltungskinos à la Hollywood.
Roberto Rossellinis Widerstandschronik Roma città aperta (Rom, offene Stadt, 1945) und ihr Nachfolger Paisà (1946) etablierten den Neorealismus als Zeitzeugen der Befreiung – und die Paradigmen seiner Ästhetik: Gedreht wurde an Originalschauplätzen, ohne künstliches Licht und bevorzugt in langen Einstellungen; die Arbeiterklasse-Protagonist*innen wurden meist von Laiendarsteller*innen, oft auch Kindern verkörpert; es gab offene Enden "wie im wirklichen Leben" statt sauber abgeschlossenen Erzählungen.
Doch die Definition war durchlässig: Luchino Viscontis Ossessione (Besessenheit, 1943) – nachträglich als erstes Meisterwerk des neorealismo inthronisiert – konterkarierte die authentische Milieuzeichnung mit einem kunstfertigen Kamerastil, um die Geschichte des US-Krimiklassikers The Postman Always Rings Twice zu bebildern. Im Fischerepos La terra trema (Die Erde bebt, 1948) fusionierte Visconti den extremen realistischen Impuls vollends mit opernhafter Stilisierung (der ursprüngliche verismo hatte ein halbes Jahrhundert davor im Musiktheater Triumphe gefeiert). Indes hatte Autor Cesare Zavattini als Theoretiker der Bewegung die Idee vom neorealistischen Kino als Reportage des Alltags etabliert: Aber seine Welterfolge mit Regisseur Vittorio De Sica, allen voran Ladri di biciclette (Fahrraddiebe, 1948), waren virtuose Choreografien einer "ungeschminkten" Wirklichkeit und appellierten an universale Emotionen. Wichtiger als alle Reinheitsgebote war letztlich die humanistische Ausrichtung des Neorealismus.
Denn noch während er international als tonangebende neue Strömung gefeiert wurde, hatten sich seine Schlüsselregisseure von den vermeintlichen Prinzipien gelöst. Der Neorealismus war zum Sammelbecken geworden, aus dem sich der Aufbruch in den Autorenfilm (etwa durch Michelangelo Antonioni und Federico Fellini) ebenso speiste wie dokumentarische Impulse (am schönsten bei Vittorio De Seta) und ein volksnahes Unterhaltungskino: gebündelt sichtbar in der Vielfalt der Beiträge zu Zavattinis "Film-Zeitung" L'amore in città (Liebe in der Stadt, 1953). (Christoph Huber)
Mit Herbst 2021 startet das Österreichische Filmmuseum die neue Reihe Collection on Screen, die sich anhand unserer eigenen Sammlung mit Filmgeschichte auseinandersetzt.