Le temps du loup (Wolfzeit), 2003, Michael Haneke (Sammlung Michael Haneke/ÖFM)

Michael Haneke

4. März bis 2. Mai 2022
 

"Die oberste Tugend der Kunst ist die Genauigkeit. Intensität entsteht durch Genauigkeit im Detail. Deshalb ist Genauigkeit sowohl eine ästhetische wie auch eine moralische Kategorie. Sie stellt eine Verpflichtung dar. Sozusagen den moralischen Imperativ der Kunst." Mit diesem Zitat (2010 im Gespräch mit Thomas Assheuer) bringt Michael Haneke das Ethos seiner künstlerischen Arbeit auf den Punkt: es sich (und anderen) nicht leicht zu machen, um im Medium des Films jene Genauigkeit und Schlichtheit des Ausdrucks zu erreichen, die der Wirklichkeit angemessen ist.
 
Das Werk Michael Hanekes, welches wir in Zusammenarbeit mit dem Musikverein im März und April präsentieren, nimmt im zeitgenössischen Weltkino einen prominenten Platz ein. Hanekes unsentimentaler Blick auf die gegenwärtige Gesellschaft sowie seine präzisen, oftmals verstörenden Erzählkonstruktionen machen ihn zu einem der meistkommentierten und umstrittensten Regisseure der Filmgeschichte. Lässt man die bisweilen kuriosen, skandalisierenden oder vereinfachenden Kategorisierungen beiseite, mit denen Haneke seit seinem Leinwanddebüt Der siebente Kontinent (1989) bedacht wird, findet man sich Auge in Auge mit einem Werk von kristalliner Klarheit und emotionaler Wucht, das in seiner Verbindung von handwerklicher Fertigkeit und Anspruch an die Vorstellungskraft und Empathie seines Publikums einzigartig ist.
 
Der radikalen Schlichtheit seines Kinodebüts folgten mit Benny's Video (1992) und 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls (1994) nicht weniger unerbittliche Studien menschlichen Zusammenlebens, von Tod und (Selbst-)Zerstörung. Immer signifikant ist in Hanekes Filmen die Rolle der elektronischen Medien Fernsehen und Radio. In die häuslichen Katastrophen der kleinbürgerlichen Protagonist*innen der Filme ragt, über das Flimmern und Rauschen der Apparate, die Außenwelt als Spektakel herein – so die Videobilder nicht, wie im Meta-Psychothriller Caché (2005) gleichsam gewaltsam ins Haus und ins Leben von Hanekes Figuren eindringen.
 
Im neuen Jahrtausend gelingt Haneke dann ein bemerkenswerter Sprung, nicht nur vom deutschen in den französischen Sprachraum, sondern hin zu einer Erweiterung seines thematischen und formalen Spektrums. Dem in Sachen Komplexität und Vieldeutigkeit Meilensteine setzenden Code inconnu (Code: unbekannt, 2000) folgen in schnellem Takt so unterschiedliche Filme wie die gefeierte Elfriede-Jelinek-Adaption La Pianiste (Die Klavierspielerin, 2001) oder die rätselhafte Katastrophen-Sci-Fi-Erzählung Le Temps du loup (Wolfzeit, 2003). Haneke inszeniert Thriller wie den erwähnten Caché (2005) und die verstörende Hollywood-Neuinszenierung Funny Games U.S. (2007), aber auch psychologische Dramen wie die internationalen Arthouse-Erfolge Das weiße Band (2009) und den Oscar-preisgekrönten Film Amour (2012), zuletzt auch die Tragikomödie Happy End (2017).
 
Wie sich dieses ästhetische Programm bereits lang vor Der siebente Kontinent formierte, zeigt Hanekes weniger bekanntes, dafür umso umfangreicheres und vor allem sehr "kinematografisches" Schaffen für das Fernsehen. Nach dem Studium in Wien ging der 1942 geborene und in Wiener Neustadt aufgewachsene Haneke nach Deutschland und arbeitete ab 1967 als Redakteur und Fernsehspieldramaturg beim Südwestfunk (SWR). 1974 entstand sein erster Fernsehfilm ... und was kommt danach? (After Liverpool), gefolgt von vielbeachteten TV-Filmen, unter anderem nach Vorlagen von Ingeborg Bachmann (Drei Wege zum See) und Peter Rosei (Wer war Edgar Allan?). Ein Schlüsselwerk stellt der autobiografische Zweiteiler Lemminge (1979) dar. Die erste Nachkriegsgeneration im Wiener Neustadt der ausgehenden 1950er Jahre als "lost generation": die Schuld der Eltern, die Unfähigkeit zu kommunizieren, Gewalt als Ausbruch, und ein Unbehagen, das sich nicht aus der Aktion, sondern aus dem Alltäglichen seines Figurenensembles entfaltet. Diesen Spuren kann man im Rahmen der Retrospektive nachgehen. Dank der Zusammenarbeit mit dem ORF-Archiv ist Michael Hanekes Schaffen für das deutsche und österreichische Fernsehen beinahe komplett zu sehen, Lemminge in einer neuen, von 16mm hergestellten digitalen Fassung.
 
Allen Filmen Hanekes gemein sind Präzision in Schauspielführung, Mise-en-scène, Schnitt und Tongestaltung. Bei aller Heterogenität treten in jedem dieser Werke Hanekes überragende Musikalität sowie sein Sinn für Form, Struktur und Symmetrie zu Tage. Weit entfernt davon, Selbstzweck, l'art pour l'art zu sein, ist Hanekes Kino ganz der Mündigkeit und Reflexionsfähigkeit seines Publikums verpflichtet. Hier kommt der eingangs erwähnte, moralische Imperativ wieder ins Spiel. Kunst ist "Verdichtung" so Haneke, "erfordert in der Rezeption Arbeit". Hanekes Kino stellt unangenehme Fragen, anstatt sein Publikum mit einfachen Antworten ruhig zu stellen. (Michael Loebenstein, Katharina Müller)
 
Die Retrospektive entstand in Zusammenarbeit zwischen dem Filmmuseum und dem Wiener Musikverein, wo von 24. bis 27. März 2022 im Rahmen des Programms Musikverein Perspektiven: Michael Haneke der Musikalität in Hanekes Werk in Konzerten und Diskussionen nachgegangen wird. Informationen zu den Konzerten und Veranstaltungen mit Michael Haneke im Musikverein: www.musikverein.at
 
Die Umsetzung dieser Filmschau verdankt sich maßgeblich der Zusammenarbeit mit dem Archiv des ORF, welches die besten vorhandenen Sendebänder der Fernsehfilme Hanekes zur Verfügung stellte; dem Filmarchiv Austria, Aufbewahrungsort zahlreicher Filme Hanekes, der WEGA Film sowie dem Stadtkino Verleih und dem Filmladen.
 
Auf Initiative des langjährigen Filmmuseums-Direktors Alexander Horwath überträgt Michael Haneke seit 2003 seinen Vorlass schrittweise dem Österreichischen Filmmuseum. Die Sammlung wird laufend erweitert und erschlossen und ist online  zugänglich.
Zusätzliche Materialien