Bildnis einer Trinkerin, 1979, Ulrike Ottinger © Ulrike Ottinger

Ulrike Ottinger

26. Mai bis 30. Juni 2022

Willkommen im revolutionären Kosmos der Ulrike Ottinger! Zum 80. Geburtstag der Kinopionierin, Allroundkünstlerin und Weltreisenden zeigen wir ihr filmisches Gesamtwerk: Sie werden sehen, was Sie so noch nie gesehen haben. Ottingers Filme sind Autor*innenkino so sehr, wie sie Avantgarde sind, Konformität mit jeglichem Mainstream lehnt sie ab. Ihre Filme lassen sich auf zwei Tendenzen hin beschreiben: eine stark auf Kunstfertigkeit und Exzentrik angelegte fiktionale sowie eine auf die Kraft von Fotografie und Montage setzende dokumentarische, ethnografische. In beiden artikuliert sich ein feiner Sinn für das Märchen- und Zauberhafte, für die kunstvolle Fabriziertheit des Alltags, seine Betörungen. Ottingers Filme sind von hoher Anziehungskraft, sind Kino der Attraktion. Hier überwiegt das Staunen, die visuelle Neugier. Aus ihrem Werk spricht ein großer Durst nach Welt und danach, was eine*n darin weiterbringen kann: Transformation nämlich, wie sie es bereits in ihrer ersten Arbeit Laokoon und Söhne (1975), einer fantasievollen Gegenkunstwelt, nahelegt. Die Metamorphose als Weg zu einem neuen Empfinden beginnt bei der Wahrnehmung und dem, was wir als Realität begreifen – für Ottinger etwas, das sich erweitern lässt. Die Betörung der blauen Matrosen (1975) führt diese Extension weiter, erschließt neue poetische Welten mit dem Verfahren der Collage: Film als Konglomerat aus Malerei, Fotografie, Tanz, Musik, Architektur, Literatur, Choreografie, Rhythmus, Komposition, Licht- und Farbdramaturgie. Die Psychologisierung überlässt sie bereits in Madame X – Eine absolute Herrscherin (1977) einer Fachfrau, um sich der Oberfläche zuzuwenden. Mit der berühmten Berlin Trilogie – Bildnis einer Trinkerin (1979), Freak Orlando (1981) und Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse (1984) – zelebriert sie deren Vielschichtigkeit in Form eines kunstvollen Kaleidoskops voller Kuriositäten, Wunder und Seltsamkeiten, die sie der Wirklichkeit des Alltags sämtlicher Jahrhunderte entnimmt und vor den Industrielandschaften Berlins neu zusammenbaut.
 
Ottingers Arbeiten sind enorm dicht, alle Objekte, Materialitäten, Kostüme, Figuren(-namen) sind kulturell aufgeladen. Die Filmemacherin vereint Stilelemente aus unterschiedlichsten Genres und Kunstrichtungen (Surrealismus, Dadaismus und Pop Art insbesondere), macht das Historische im Gegenwärtigen sichtbar und gibt weiten Raum für Imagination. Fernab identitätspolitischer Vereinfachungen werden Queerness und Sexualität, wie Kunst selbst, als schöpferische Kraft und als Potenzial einer ästhetischen Befreiung aus ideologischen Verhärtungen erfahrbar.
 
Auch in der Ferne sucht Ottinger das Andere, das sie von den vermeintlichen Rändern her betrachtet. Vermeintlich insofern, als sie die "Exotik als Frage des Standpunkts" begreift. In einem Heute der Grenzschließungen, der Renationalisierung, politisch und medial ernüchternd, finden wir in Ottingers Kino etwas, das der Welt gerade vollends abhanden gekommen scheint: eine Atmosphäre und Stimmung des Aufbruchs und der Veränderung, motiviert durch Begegnung, gebannt in der lustvollen Auseinandersetzung mit Grenzen und den Bewegungen, die ihre Auflösung ermöglicht.
 
Die Filme sind Resultate und zugleich Ausstellungen von Sammlungsprozessen. Die Qualitäten von Museum, Sammlung und des Archivarischen sowie die Erfahrung der positiven Überwältigung, die sie damit verbindet, sind bedeutungsvoll: In ihnen findet sie ein Reservoir für die Wieder- und Neuentdeckung filmischer Bildsprachen.
 
Während sich ihre Dokumentarfilme China. Die Künste – Der Alltag (1985) und Taiga (1992) in einen Entstehungszusammenhang mit dem frühen Besuch asiatischer Sammlungen bringen lassen, funktionieren Ottingers Film-Collagen gewissermaßen selbst wie inszenierte oder montierte Sammlungen: eher der barocken Wunderkammer als dem modernen Museum nahestehend. Johanna d'Arc of Mongolia (1989), die (post-)sowjetische Literaturadaption Zwölf Stühle (2004) oder Prater (2007) sind exemplarisch dafür. Die Exotik erkennt die Weltreisende im Deutschland der Wiedervereinigung (Countdown, 1991) ebenso wie sie diese in den einst im Stadtbild von Shanghai sich manifestierenden Spuren der von Heimweh gezeichneten österreichischen, deutschen und russischen jüdischen Emigrant*innen (Exil Shanghai, 1997) oder in einem Europa abseits des medialen Interesses (Südostpassage, 2002) vorfindet: als Sammlung auch dessen, was von Geschichte in Menschen, in Architekturen, Schaufenstern, aber auch in der größten Abgelegenheit, in Objekten, Fotos, Erinnerungen, Riten, Bräuchen und Melodien übrig bleibt. Mit einem alten Märchen leitet Ottinger in Die koreanische Hochzeitstruhe (2008) ihre Betrachtung des großen Theaters der Liebe ein, als das das traditionell aufwendige Vermählungsritual in seiner Gleichzeitigkeit von Tradition, Inszenierung und Konsumkultur begreiflich wird. Unter Schnee (2011) wiederum nimmt in der Verwandlung zweier Kabuki-Darsteller das Theatrale zum Leitfaden einer Dokumentation, in der sich das Ethnografische mit dem Poetischen verbindet.
 
Das Archivarische und die Möglichkeiten von Aufzeichnung im Dokumentarischen folgen dabei keinen strengen Gesetzen, weder in Bezug auf räumliche Gegebenheiten, noch mit Blick auf die Zeit, die wir im Bann der Bilder verfliegen sehen: So erleben wir auch in der tagfüllenden Arbeit Chamissos Schatten (2016), einer filmischen Reise in die Beringsee als Mischung aus Logbuch, teilnehmender Beobachtung, fremdem und eigenem Reisebericht, Geschichte in einer Lebhaftigkeit, wie man ihr selten begegnet. Es ist eine Geschichte der vielen Geschichten. (Katharina Müller)
 
Von 26. bis 30. Mai in Anwesenheit von Ulrike Ottinger

Mit freundlicher Unterstützung der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Wien
 
Ausstellungshinweis: "Widerständige Musen. Delphine Seyrig und die feministischen Videokollektive im Frankreich der 1970er- und 1980er-Jahre" in der Kunsthalle Wien beleuchtet bis 4. September 2022 die Überschneidung zwischen den Geschichten des Kinos, des Videos und des Feminismus. Seit den 1970er-Jahren engagierte sich Delphine Seyrig als Aktivistin in der feministischen Bewegung und arbeitete mit Filmemacherinnen wie Chantal Akerman, Marguerite Duras und Ulrike Ottinger zusammen. Ulrike Ottinger wird im Rahmen der Programmreihe "Meine Sicht" eine Führung durch die Ausstellung geben.
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