Das ist keine Khavn-Retrospektive
Filme und Kino-Konzert von Khavn
3. bis 9. Juli 2024
Um die Jahrtausendwende schockierte der philippinische Filmemacher, Dichter, Schriftsteller, Aktivist und Musiker Khavn De La Cruz1 die internationale Filmfestival-Gemeinde mit Bildern seines Heimatlandes, die sich von allen bisherigen unterschieden. Und er wurde sofort zu einem Kultregisseur.
Damals war das sogenannte "Weltkino" ein fester Bestandteil von mehreren europäischen und nordamerikanischen Filmfestivals und wurde in erster Linie mit dem sich rasch verbreitenden Konzept eines Slow Cinema in Verbindung gebracht sowie mit einem Trend zur Selbstexotisierung. Khavn2 war sich – wie viele seiner Kolleg*innen, die in einer neu vernetzten, globalisierten Gesellschaft ins internationale Rampenlicht drängten – der eurozentrischen und anthropozentrischen Erwartungshaltungen völlig bewusst, die über rote Teppiche zu glänzenden Tierstatuen führen. So ging es ihm insbesondere darum, diese Erwartungen zu unterwandern, ebenso sämtliche Regeln und Vorschriften des Filmemachens und den Anstand im Allgemeinen. Bei ihm fängt die Subversion bereits im Vorspann an. Alle Filme von Khavn3 beginnen mit dem Hinweis: "Das ist kein Film von Khavn4."
In 30 Jahren rastlosen Filmemachens entstanden über 50 Spielfilme und mehr als 150 Kurzfilme. Neben seiner filmischen Arbeit hat Khavn5 auch acht Gedichtbände, zwei Kurzgeschichten-Sammlungen, einen Roman, ein Nachschlagewerk und sechs Manifeste verfasst. Unsere Hommage an Khavn6 ist daher von einer umfassenden Retrospektive weit entfernt. Wir können lediglich feststellen: Das ist keine Khavn-Retrospektive, sondern eine kurze sommerliche Begegnung mit einigen der bizarrsten, radikalsten und zugleich gesellschaftlich relevantesten Bildern, die das zeitgenössische Punk-Kino zu bieten hat.
Die bereits erwähnten Manifeste sind tatsächlich ein hervorragendes Mittel, um das unheilige kinematografische Universum von Khavn7 zu verstehen, zu würdigen oder einfach nur zu betreten, denn er gehört zu jenen Künstler*innen, die intensiv über ihre eigene Arbeit nachdenken, sich sowohl in Bildern als auch in Worten (und in diesem Fall auch in Musik) ausdrücken können und dabei Theorie und Praxis zu einem nahtlosen Ganzen verschmelzen lassen.
Khavn8 hat sein künstlerisches Selbstverständnis bereits in seinem ersten Manifest treffend zusammengefasst, dem "Day Old Flick Manifesto: Street Food Cinema", einem inspirierenden Stück Slam-Poetry, das problemlos den Lehrplan der meisten Filmschulen der Welt ersetzen könnte und es wert ist, hier in seiner Gesamtheit abgedruckt zu werden:
Arbeite mit dem Gegebenen.
Von Drehort und Requisite bis zu Besetzung und Personal.
Dreh nur an einem einzigen Ort.
Wenn Du mehrere Drehorte hast, zeichne eine Karte.
Kartografie ist Kinematografie.
Reduziere die Besetzung aufs Minimum.
Keine Schauspieler*innen heißt nicht, kein Film.
Ein/e Schauspieler*in ist mehr als genug.
Zwei sind die Voraussetzung für einen dramatischen Konflikt.
Drei sind eine wahnsinnige Menge.
Vier sind ...
Du verstehst schon.
Nutze den Ort.
Optimiere die Umgebung.
Dreh in Deiner eigenen Nachbarschaft.
Sei offen für das Einwirken äußerer Kräfte.
Lass die Welt herein.
Das Leben als Co-Regisseur.
Beherrsche die Kunst der Improvisation.
Konzept ist Mord.
Kompensiere den Zeitmangel mit einem Überschuss an Kreativität.
Kreativität ist kostenlos.
Nutze Tiere in interessanten Situationen.
Wenn Du sie schon tötest, achte darauf, dass die Kamera läuft.
Besetze schöne Menschen.
Du kannst ein Drehbuch haben, musst aber nicht.
Du kannst Notizen haben, musst aber nicht.
Brich die Regeln.
Im Grunde gibt es keine Regeln.
Also erfinde sie.
Dann brich sie.
Nutze gefundenes Filmmaterial.
Kannibalisiere.
Mondo bizarro.
Nimm ein tolles Team.
Nutze Deine Grenzen zu Deinem Vorteil.
Nimm sie an.
Spiele Tischtennis ohne Netz.
Sei offen für Fehler.
Nutze sie geradezu aus.
Wenn Du keine gute Tontechnik hast, mach einen Stummfilm.
Tobe Dich beim Sounddesign aus.
Nutze die Geräusche.
Bezahle keine Leute, die reicher sind als Du.
Bezahle Freundlichkeit.
Verbrechen zahlt sich nicht aus.
Wenn Du reich werden willst, mach keine Kriminalfilme.
Wenn die Genehmigung billig ist, besorge sie Dir.
Wenn sie teuer ist, filme schnell.
Lauf schnell.
Das Leben ist kurz.
Hab Spaß.
Unerhörte Schönheit macht uns sprachlos.
Geheimnisse sind die Würze.
Schöne Augen sind der Schlüssel zum großen Kino.
Das beste Blut ist Schweineblut.
Wenn Du Dich wie Dreck fühlst, spring in einen Müllwagen.
Wenn Du Dich beschissen fühlst, weißt Du, wohin Du gehen musst.
Erhänge Dich an einem imaginären Seil.
Tierische Liebe ist das Höchste.
Gott steckt in den Details.
Liebe, zuallererst und vor allem.
Leck das linke Auge des Teufels.
Tolles Haar ist wichtig.
Wenn der Tag zu Ende ist, ist der Dreh zu Ende.
Die Zeit ist um.
Das Spiel ist aus.
Wiederhole es.
Arbeite mit dem Gegebenen.
In den folgenden fünf Manifesten erweiterte und entwickelte Khavn9 diese Richtlinien – und mit ihnen sein Kino – zu einer immer präziseren, prägnanteren und mitfühlenderen Form. Seine Hingabe an entprivilegierte Produktionsmechanismen gipfelte in seinem jüngsten Manifest mit dem Titel "Be Movies", in dem er die bisher deutlichste Parallele zwischen dem Filmemachen und dem Leben zieht, wenn er behauptet, dass "man im Film, wie im Leben, seine eigenen Regeln macht. Man kann ohne Drehbuch drehen oder sich streng an den Text halten. Es ist dein Film. Es ist dein Leben. Sich einzig und allein auf die Kamera zu verlassen, setzt eine gewisse Art von Vertrauen oder Loslassen voraus. Es ist, als würde man sagen: 'Ich liebe das Leben, mit allem Drum und Dran.' Es gibt keine Fehler."
Khavns10 schnell wachsendes filmisches Werk ist ein ähnliches Experiment wie jenes, das sein Landsmann Lav Diaz etwa zur selben Zeit unternimmt – ein umfassendes Projekt zur wahrheitsgetreuen Darstellung (und damit zur Kritik) von Vergangenheit und Gegenwart ihrer Insel-Gesellschaften, die von jahrhundertelanger Kolonialisierung, imperialistischer Gewalt und heimischen Diktaturen gezeichnet sind. Doch während Diaz all das in Form von epischer Poesie betreibt, bleibt Khavn11 seinen DIY-Punk-Wurzeln treu, seiner verrückten kaleidoskopischen Erzählweiseund seiner Mission, uns mit bisher ungesehenen Eindrücken zu überwältigen. (Jurij Meden)
1 Hauptsächlich bekannt als Khavn und laut Variety der vermutlich produktivste Filmemacher der Welt.
2 Enfant terrible des philippinischen Kinos, so das Internationale Filmfestival von Pesaro.
3 Der neue Takashi Miike, behauptet Mondo Paura.
4 Ein Rock 'n' Roll-Filmemacher mit der Feinfühligkeit von Buñuel, stellt GMA News fest.
5 Che Guevara der digitalen Revolution, wie das Internationale Filmfestival von La Palma berichtet.
6 Die philippinische Antwort auf das Dogma-Manifest, erklärt das Singapore International Film Festival.
7 Eine echte Entdeckung und der Lars von Trier der Philippinen, schrieb das Festival du Nouveau Cinéma de Montréal.
8 Ein Punk-Rebell, behauptete irgendwann Die Presse.
9 Von Sight & Sound einst als Wunderkind bezeichnet.
10 Vom Rotterdam Film Festival als "experimenteller Extremist" bezeichnet.
11 Ein philippinischer Renaissance-Mann und ein rebellischer Priester, der alles in den Schatten stellt, so Film Comment.
In Anwesenheit von Khavn am 3. Juli (Kino-Konzert) und 4. Juli 2024
Um die Jahrtausendwende schockierte der philippinische Filmemacher, Dichter, Schriftsteller, Aktivist und Musiker Khavn De La Cruz1 die internationale Filmfestival-Gemeinde mit Bildern seines Heimatlandes, die sich von allen bisherigen unterschieden. Und er wurde sofort zu einem Kultregisseur.
Damals war das sogenannte "Weltkino" ein fester Bestandteil von mehreren europäischen und nordamerikanischen Filmfestivals und wurde in erster Linie mit dem sich rasch verbreitenden Konzept eines Slow Cinema in Verbindung gebracht sowie mit einem Trend zur Selbstexotisierung. Khavn2 war sich – wie viele seiner Kolleg*innen, die in einer neu vernetzten, globalisierten Gesellschaft ins internationale Rampenlicht drängten – der eurozentrischen und anthropozentrischen Erwartungshaltungen völlig bewusst, die über rote Teppiche zu glänzenden Tierstatuen führen. So ging es ihm insbesondere darum, diese Erwartungen zu unterwandern, ebenso sämtliche Regeln und Vorschriften des Filmemachens und den Anstand im Allgemeinen. Bei ihm fängt die Subversion bereits im Vorspann an. Alle Filme von Khavn3 beginnen mit dem Hinweis: "Das ist kein Film von Khavn4."
In 30 Jahren rastlosen Filmemachens entstanden über 50 Spielfilme und mehr als 150 Kurzfilme. Neben seiner filmischen Arbeit hat Khavn5 auch acht Gedichtbände, zwei Kurzgeschichten-Sammlungen, einen Roman, ein Nachschlagewerk und sechs Manifeste verfasst. Unsere Hommage an Khavn6 ist daher von einer umfassenden Retrospektive weit entfernt. Wir können lediglich feststellen: Das ist keine Khavn-Retrospektive, sondern eine kurze sommerliche Begegnung mit einigen der bizarrsten, radikalsten und zugleich gesellschaftlich relevantesten Bildern, die das zeitgenössische Punk-Kino zu bieten hat.
Die bereits erwähnten Manifeste sind tatsächlich ein hervorragendes Mittel, um das unheilige kinematografische Universum von Khavn7 zu verstehen, zu würdigen oder einfach nur zu betreten, denn er gehört zu jenen Künstler*innen, die intensiv über ihre eigene Arbeit nachdenken, sich sowohl in Bildern als auch in Worten (und in diesem Fall auch in Musik) ausdrücken können und dabei Theorie und Praxis zu einem nahtlosen Ganzen verschmelzen lassen.
Khavn8 hat sein künstlerisches Selbstverständnis bereits in seinem ersten Manifest treffend zusammengefasst, dem "Day Old Flick Manifesto: Street Food Cinema", einem inspirierenden Stück Slam-Poetry, das problemlos den Lehrplan der meisten Filmschulen der Welt ersetzen könnte und es wert ist, hier in seiner Gesamtheit abgedruckt zu werden:
Arbeite mit dem Gegebenen.
Von Drehort und Requisite bis zu Besetzung und Personal.
Dreh nur an einem einzigen Ort.
Wenn Du mehrere Drehorte hast, zeichne eine Karte.
Kartografie ist Kinematografie.
Reduziere die Besetzung aufs Minimum.
Keine Schauspieler*innen heißt nicht, kein Film.
Ein/e Schauspieler*in ist mehr als genug.
Zwei sind die Voraussetzung für einen dramatischen Konflikt.
Drei sind eine wahnsinnige Menge.
Vier sind ...
Du verstehst schon.
Nutze den Ort.
Optimiere die Umgebung.
Dreh in Deiner eigenen Nachbarschaft.
Sei offen für das Einwirken äußerer Kräfte.
Lass die Welt herein.
Das Leben als Co-Regisseur.
Beherrsche die Kunst der Improvisation.
Konzept ist Mord.
Kompensiere den Zeitmangel mit einem Überschuss an Kreativität.
Kreativität ist kostenlos.
Nutze Tiere in interessanten Situationen.
Wenn Du sie schon tötest, achte darauf, dass die Kamera läuft.
Besetze schöne Menschen.
Du kannst ein Drehbuch haben, musst aber nicht.
Du kannst Notizen haben, musst aber nicht.
Brich die Regeln.
Im Grunde gibt es keine Regeln.
Also erfinde sie.
Dann brich sie.
Nutze gefundenes Filmmaterial.
Kannibalisiere.
Mondo bizarro.
Nimm ein tolles Team.
Nutze Deine Grenzen zu Deinem Vorteil.
Nimm sie an.
Spiele Tischtennis ohne Netz.
Sei offen für Fehler.
Nutze sie geradezu aus.
Wenn Du keine gute Tontechnik hast, mach einen Stummfilm.
Tobe Dich beim Sounddesign aus.
Nutze die Geräusche.
Bezahle keine Leute, die reicher sind als Du.
Bezahle Freundlichkeit.
Verbrechen zahlt sich nicht aus.
Wenn Du reich werden willst, mach keine Kriminalfilme.
Wenn die Genehmigung billig ist, besorge sie Dir.
Wenn sie teuer ist, filme schnell.
Lauf schnell.
Das Leben ist kurz.
Hab Spaß.
Unerhörte Schönheit macht uns sprachlos.
Geheimnisse sind die Würze.
Schöne Augen sind der Schlüssel zum großen Kino.
Das beste Blut ist Schweineblut.
Wenn Du Dich wie Dreck fühlst, spring in einen Müllwagen.
Wenn Du Dich beschissen fühlst, weißt Du, wohin Du gehen musst.
Erhänge Dich an einem imaginären Seil.
Tierische Liebe ist das Höchste.
Gott steckt in den Details.
Liebe, zuallererst und vor allem.
Leck das linke Auge des Teufels.
Tolles Haar ist wichtig.
Wenn der Tag zu Ende ist, ist der Dreh zu Ende.
Die Zeit ist um.
Das Spiel ist aus.
Wiederhole es.
Arbeite mit dem Gegebenen.
In den folgenden fünf Manifesten erweiterte und entwickelte Khavn9 diese Richtlinien – und mit ihnen sein Kino – zu einer immer präziseren, prägnanteren und mitfühlenderen Form. Seine Hingabe an entprivilegierte Produktionsmechanismen gipfelte in seinem jüngsten Manifest mit dem Titel "Be Movies", in dem er die bisher deutlichste Parallele zwischen dem Filmemachen und dem Leben zieht, wenn er behauptet, dass "man im Film, wie im Leben, seine eigenen Regeln macht. Man kann ohne Drehbuch drehen oder sich streng an den Text halten. Es ist dein Film. Es ist dein Leben. Sich einzig und allein auf die Kamera zu verlassen, setzt eine gewisse Art von Vertrauen oder Loslassen voraus. Es ist, als würde man sagen: 'Ich liebe das Leben, mit allem Drum und Dran.' Es gibt keine Fehler."
Khavns10 schnell wachsendes filmisches Werk ist ein ähnliches Experiment wie jenes, das sein Landsmann Lav Diaz etwa zur selben Zeit unternimmt – ein umfassendes Projekt zur wahrheitsgetreuen Darstellung (und damit zur Kritik) von Vergangenheit und Gegenwart ihrer Insel-Gesellschaften, die von jahrhundertelanger Kolonialisierung, imperialistischer Gewalt und heimischen Diktaturen gezeichnet sind. Doch während Diaz all das in Form von epischer Poesie betreibt, bleibt Khavn11 seinen DIY-Punk-Wurzeln treu, seiner verrückten kaleidoskopischen Erzählweiseund seiner Mission, uns mit bisher ungesehenen Eindrücken zu überwältigen. (Jurij Meden)
1 Hauptsächlich bekannt als Khavn und laut Variety der vermutlich produktivste Filmemacher der Welt.
2 Enfant terrible des philippinischen Kinos, so das Internationale Filmfestival von Pesaro.
3 Der neue Takashi Miike, behauptet Mondo Paura.
4 Ein Rock 'n' Roll-Filmemacher mit der Feinfühligkeit von Buñuel, stellt GMA News fest.
5 Che Guevara der digitalen Revolution, wie das Internationale Filmfestival von La Palma berichtet.
6 Die philippinische Antwort auf das Dogma-Manifest, erklärt das Singapore International Film Festival.
7 Eine echte Entdeckung und der Lars von Trier der Philippinen, schrieb das Festival du Nouveau Cinéma de Montréal.
8 Ein Punk-Rebell, behauptete irgendwann Die Presse.
9 Von Sight & Sound einst als Wunderkind bezeichnet.
10 Vom Rotterdam Film Festival als "experimenteller Extremist" bezeichnet.
11 Ein philippinischer Renaissance-Mann und ein rebellischer Priester, der alles in den Schatten stellt, so Film Comment.
In Anwesenheit von Khavn am 3. Juli (Kino-Konzert) und 4. Juli 2024
Zusätzliche Materialien
Fotos 2024 - Khavn & Babel Gun