Als Metapher für die Kalamitäten des Daseins begegnen wir dem Seiltanz so oft, dass seine gegenwärtige Wiederkehr im Slacklining nur mehr ein schlaffes Verbindungsseil zur fortschreitenden Prekarisierung des Alltagslebens knüpft. Umso erstaunlicher daher der moderne Seiltänzer im gleichnamigen Filmfundstück vom Ende der 1920er-Jahre, denn sein Balanceakt in jener überreizten Zeit zwischen den Kriegen gleicht einem Tanz auf dem Vulkan.
Zu den gleichermaßen überschwänglichen wie leichtfüßigen Bewegungen des Akrobaten tanzt eine weibliche Begleiterin auf der Bühne mit, als müsste sie daran erinnern, dass es auch festen Boden gäbe und die Grundlage von Bewegung und Tanz dort zu suchen sei und nicht auf einem schwankenden Stück Stahlseil. In dieser Beziehung von festem Boden und schwebendem Seil bezaubert die Kunst des modernen Seiltänzers nicht dadurch, dass wir am eigenen Leib erfahren könnten, welcher Übung es bedürfte, uns auf einem dünnen Draht in der Luft zu halten. Sie fasziniert vielmehr deshalb, weil die Leichtigkeit, mit der hier getanzt und gesprungen, gefedert und gehüpft wird, zur Mutmaßung verführt, der Tänzer sei durch die Begrenzung seines schmalen Seils von Schwerkraft und Beschwerlichkeit befreit.
Die subtile Attraktion besteht nicht darin, dass der Akrobat den Bewegungen der Tänzerin am Boden folgt, sondern dass die Pirouetten der irdischen Tänzerin angesichts der federnden Leichtigkeit des luftigen Tänzers verblassen. An der stahlseildünnen Grenze zwischen Absturz und Schwerelosigkeit wird er zur Verkörperung einer Paradoxie, der zufolge Bewegung umso leichter erscheint, je schwieriger die Verhältnisse sind, in denen sie sich entfaltet.
Kaum hat sich dieser paradoxe Eindruck eingestellt, geht der Akrobat vom Seiltanzen zum Seilspringen über und liefert damit mehr als nur einen weiteren Beweis seiner Fertigkeit. Wir werden zu AugenzeugInnen der filmischen Beweisführung, dass die Anmut seiner Bewegungen keinem mechanischen Trick geschuldet ist. Der moderne Seiltänzer ist nachweislich keine Gliederpuppe aus dem Kleist'schen Marionettentheater, die – an Schnüren aufgehängt – ihre Grazie einer allwissenden oder bewusstlosen Instanz zu verdanken hätte.
Trotz all dieser Kunstfertigkeit bleibt sowohl die Kameraführung als auch die filmische Montage hinter den Möglichkeiten des akrobatischen Körpers zurück. Das geschieht allerdings nicht aus technischem Unvermögen, sondern um die Fähigkeiten des Seiltänzers zu unterstreichen: Montage und Kameraarbeit wollen keine Bewegungsabläufe suggerieren oder manipulieren, sondern das Spektakel der "Wirklichkeit" im Register des "Dokumentarischen" festhalten.
Tom Waibel
Erstmals veröffentlicht auf derStandard.at am 9.6.2015