Die Filmgeschichtsschreibung ist von Mythen und Legenden geprägt. Historiker haben nicht selten mit mangelnder Überlieferung, unzureichenden Quellen oder falschen Erinnerungen von Zeitzeugen zu kämpfen. Die allgemeine Tendenz, Filmgeschichte in Meilensteinen zu messen (der erste Tonfilm, der erste Farbfilm usw.) führt zu einer Vergröberung der Fakten.
Zum Beispiel: Alan Croslands Film The Jazz Singer (1927) wird oft als erster Tonfilm der Filmgeschichte bezeichnet. Ohne Zweifel spielte der große Kassenerfolg des Films eine wesentliche Rolle beim endgültigen Wandel vom Stumm- zum Tonfilm in den folgenden Jahren. Aber der Tonfilm als solcher war nichts Neues, als The Jazz Singer am 6. Oktober 1927 in New York uraufgeführt wurde.
Sobald die Bilder laufen lernten, gab es Versuche, ihnen auch eine Stimme zu geben. Das früheste erhaltene Beispiel von Thomas-Edison-Mitarbeiter W.K.L. Dickson (1860–1935) geht sogar der "ersten" öffentlichen Filmvorstellung der Gebrüder Lumière am 28. Dezember 1895 im Pariser Grand Café (der "Geburt" des Kinos) voraus. Der Tonfilm existierte also, bevor es überhaupt das Kino gab.
Die Vereinigung von Film und Phonographen
Kurze "Tonbilder" waren in den 1900er- und 1910er-Jahren ein regelmäßiger Bestandteil von Kinoprogrammen. Allein in Deutschland wurden zwischen 1903 und 1913 1.500 solcher Tonbilder produziert. Sie zeigten meist populäre Bühnenstars (oder "Playback Singers" avant la lettre) beim Singen, Tanzen und Späße-Machen. Konkurrierende Filmproduzenten, unter anderem in Deutschland, Frankreich und Großbritannien, kämpften um das Monopol mit ihren jeweils selbstentwickelten Aufnahme- und Wiedergabesystemen, die zwar nicht kompatibel waren, jedoch vom selben Ausgangspunkt ausgingen: der Vereinigung eines Filmstreifens mit einer Phonographenaufnahme.
Aufgrund der Spieldauer der damaligen Schellackplatten (ca. dreieinhalb Minuten lang) waren die Filminhalte auf kurze Sketches und einzelne Lieder beschränkt. Die zunehmende Dominanz des Langspielfilms in den Kinoprogrammen nach 1914 bezeichnete das faktische Ende der Tonbilder.
Eine viragierte 35-mm-Nitrokopie eines Tonbilds hat sich in der Sammlung des Österreichischen Filmmuseums erhalten. Sie hat keine Anfangstitel, aber das Logo am Ende weist auf eine Produktion der Deutschen Mutoskop und Biograph hin. Durch den Vergleich der Handlung mit den Angaben aus Herbert Biretts (1934–2015) Nachschlagewerk Das Filmangebot in Deutschland 1895–1911 konnte der Film als Der Deserteur (1909) identifiziert werden. 2015 wurde die Kopie, die als Unikat gilt, vom Filmmuseum digital restauriert.
Nicht überliefert ist wiederum die dazugehörige Tonplatte. Man hofft aber, die Platte noch in einem anderen Archiv oder bei Privatpersonen zu finden und damit Bild und Ton (wieder) zusammenzubringen. Als Hilfsmittel zur Auffindung der fehlenden Platte wird der Film hier in der überlieferten Form veröffentlicht. Einstweilen bleibt Der Deserteur aber nur ein Fragment – ein Körper ohne Stimme.
Oliver Hanley