Die Rückseite des Films

Blüten des Bösen: Eine Schmalfilmrolle im Stadium des Zerfalls


In Ausgraben und Erinnern (1932) schreibt Walter Benjamin von der Unerlässlichkeit des behutsamen Spatenstichs ins dunkle Erdreich – beim Versuch, sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern. Dem Filmarchivar offenbart sich ein Film vorerst auch als historisches Artefakt – unbeschrieben: Eine Rolle Schmalfilm ist [Ohne Titel] und [Anonym] und vermutlich auf Irrwegen in der Sammlung des Filmmuseums gelandet. 8mm ist das im Familienfilm der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gängige Format.

Bei der Sichtung gibt die Klebestelle den ersten Hinweis: An dieser Stelle trennt sich Vorlauf vom belichteten und entwickelten photochemischen Film, der einst durch eine Kamera gelaufen ist. Die Löcher sind ein binärer Code – den Lochkarten verwandt – der einst von einem Entwicklungslabor in den Film gestanzt wurde.
 

Diese Information entzieht sich der menschlichen Lesbarkeit. Dann erst einmal Schwarz. Was erwartet uns? Es folgen die ersten Bilder: Innsbruck. Eine Frau versucht, ihre zwei Kinder ins beste Licht zu rücken. Vielleicht 1960er-Jahre? Im Gegenschuss schlendert ein Mann über die Straße. Gehört er zur Familie? Hier erkennt man Ansätze einer Inszenierung. Der private Film ist zumeist hochgradig redundant und repetitiv. Aufgezeichnet wird die eigene Geschichte, das, was gesehen und an was erinnert werden soll: die Familie, die Urlaube und die Festanlässe. Eines der häufigsten Motive des Amateurfilms sind Blumen in Blüte, in Nahaufnahme. Die schönen Momente!
 

Jetzt stirbt er, der Film. Er ist krank
 

Dieser Film ist in einem fortgeschrittenen Stadium des Zerfalls. Es sind schwarze Flecken und Schichtablösungen zu erkennen. Das Material ist trocken und scheinbar stabil. Doch er ist falsch gelagert und vermutlich längere Zeit in einem feuchten Keller vergessen worden. Jetzt stirbt er, der Film. Er ist krank – infiziert von Bakterien – und befindet sich in einem Prozess der irreversibel und unaufhaltbar ist. Es ist eine Art Schimmelpilz, der die filmische Emulsion befallen hat und sie langsam zersetzt. "Stockflecken!" sagt die altgediente Archivarin selbstsicher, so nenne man das.
 

Nordkette. Alles, was ich noch sehen kann, sind Blumen. Es sind andere als die in Familienfilmen so beliebten. Die Blüten des Bösen sind Auswüchse des Zerfalls. Sie schreiben sich ein in den Film, entwachsen ihm, gewollt hätte man sie nicht besser platzieren können. Weil der Film aufgerollt gelagert wurde, folgen sie einem Rhythmus. Teils scheinen sie mit unheimlich anmutender Genauigkeit den Bildinhalten zu folgen: Sie umkreisen Gesichter und zeichnen den Fluss des ausgegossen Wassers nach. Wunderschön ist er der Verfall – von Film. Andere haben das auch schon bemerkt und Filme vergraben oder sich auf andere Art als Sterbehelfer engagiert: Stan Brakhage, Phil Solomon, die Gruppe Schmelzdahin! Schlimmer sind die, die lautstark den Tod von Film und Kino proklamieren. Sie tun dies öffentlich und mit Autorität – und meist zum persönlichen Vorteil. Doch auch von ihnen hat der Film schon einige überlebt.


Die Notwendigkeit des Todes: Erst das Ende beschließt die Geschichte, gibt ihr einen Bogen, und erst damit einen Sinn. Im Archiv und im Museum versuchen wir dem Tod zu trotzen, in ewigem Schachspiel Zeit zu gewinnen. Doch schlussendlich sterben auch die Statuen, wie Chris Marker und Alain Resnais in ihrem gleichnamigen Film anmerken. Auf der Leinwand, am Schneidetisch und auf dem Bildschirm flackern Bilder: Erinnerungen an vergangene Zeiten und vergangene Leben. Es sind Erinnerungen anderer, die man selbst nicht hat – oder vielleicht doch? Ein Sommer. Der Besuch bei den Großeltern. In der letzten Einstellung ist, im Kreis der Familie und der tanzenden Verfallsornamente, ein Mann zu sehen. Vielleicht stand er zuvor hinter der Kamera?

Nach 4630 Kadern tritt der totale Zerfall des Bildes ein und hier endet unser Film. Verschüttet und ausgegraben wurde er vom Lauf der Zeit. Die Geschichte des Artefakts hat hier das Kunstwerk geschaffen: objet trouvé – Perfect Film.

Nicolai S. Gütermann
Erstmals veröffentlicht auf derStandard.at am 27.10.2015

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