"Die Klassiker des sowjetrussischen Stummfilms sind bis heute ein unumgänglicher Referenzpunkt für jede Diskussion über ein künstlerisch und zugleich politisch virulentes Kino geblieben." So der erste Satz im Einleitungstext zu "Kinorevolution", einem Filmprogramm, das im Mai 2006 im Österreichischen Filmmuseum stattfand.
In Österreich war der (damals noch zeitgenössische) sowjetische Film vor 1926 kaum ein Begriff. Erst der Riesenerfolg von Sergej Eisensteins Bronenossez Potjomkin (Panzerkreuzer Potemkin, 1925) an den Kassen erweckte eine "helle Begeisterung" im österreichischen Kinopublikum. Bald wurde eine Firma gegründet, die Newa Film, um – wie der Name andeutet – den steigenden Bedarf an sowjetischen Filmen in den lokalen Kinos zu decken.
Der Film aller Filme
Im selben Jahr, als die Newa ihre Tätigkeit aufnahm, erschien Wsewolod Pudowkins Gorki-Verfilmung Mat' (Die Mutter, 1926) in Moskau. Neben Eisenstein und Dziga Vertov galt der einflussreiche Theoretiker, Schauspieler und Regisseur Pudowkin schon damals als eine der "künstlerischen Stützen des russischen Films".
Bereits Anfang 1927 kündigte die Newa diese Produktion in den Fachzeitschriften an, allerdings kam der Film erst Mitte November in die Wiener Kinos. Am Tag des Kinostarts eröffnete Die Mutter gleichzeitig in 14 Lichtspielhäusern.
Die Werbemaschinerie der Newa Film lief auf vollen Touren und setzte die Erwartungen des Publikums hoch an, als sie den "Film aller Filme" bewarb. Teil davon war die Herstellung eines Trailers eigens für die Premierenkinos in Wien. Eine Kopie dieses Trailers ist in der Sammlung des Österreichischen Filmmuseums wieder aufgetaucht.
Kunst und Werbung zugleich, verbindet er zwei (eigentlich drei) der Sammlungsschwerpunkte des Filmmuseums, das sowjetische Kino und Avantgardefilm, einerseits und vernachlässigte, ephemere Filmformen andererseits (als Kinotrailer, dessen Kurzlebigkeit auf "Die Rückseite des Films" bereits besprochen wurde).
Der Trailer ist bemerkenswert, denn er vermeidet die Zusammenstellung von reizvollen Szenen aus dem Film, wie man es von heutigen Kinotrailern kennt. Stattdessen ist er eine abstrakte Animation, vermutlich eher aus praktischer Not denn aus ästhetischer Absicht geboren (denn so waren weder Schauspieler noch Kulissen für die Produktion notwendig). Motive wie das engelhafte Mutterbild (samt Flügel!), an dessen Podest Blumen von einem körperlosen Arm geworfen werden, und der fliegende Stift, der an späterer Stelle aus einer Kritik der deutschen Filmzeitschrift Licht-Bild-Bühne "live" zitiert, wirken heute immer noch modern. In unserer postmodernen Gegenwart erinnert der Trailer fast an Terry Gilliams Ausflüge in die Fantasie wie die bahnbrechende britische Fernsehserie Monty Python's Flying Circus (1969–1974), mehr als 40 Jahre bevor es diese überhaupt gab.
Oliver Hanley
Erstmals veröffentlicht auf derStandard.at am 10.11.2015
Historische Presserezensionen aus dem ANNO-Bestand der Österreichischen Nationalbibliothek (Auswahl):
Arbeiter Zeitung, Jg. 40, Nr. 315 (18. November 1927)Mein Film, Nr. 99 (November 1927)
Neues Wiener Journal, Jg. 35, Nr. 12207 (18. November 1927)
Die rote Fahne, Jg. 10, Nr. 271 (18. November 1927)