Feste und Begräbnisse sind zwei besonders aussagekräftige Ereignisarten, wenn es darum geht, die Geschichte einer Stadt zu verstehen – im speziellen einer Stadt wie Wien. Schon in der Anfangszeit des kinematographischen Spektakels waren Aufnahmen dieser Art eines der am häufigsten gewählten Genres, sie erwiesen sich in allen Ländern als wahre Publikumsmagneten.
Der Film Das Leichenbegängnis des Reichstagsabgeordneten Franz Schuhmeier, gedreht am 16. Februar 1913 entlang der Ottakringer Straße, ist da keine Ausnahme. Der sozialdemokratische Politiker Schuhmeier war am 11. Februar 1913 durch ein politisches Attentat ums Leben gekommen. Das Begräbnis folgte wenige Tage später unter großer öffentlicher Anteilnahme: Eine halbe Million Menschen war nach zeitgenössischen Berichten anwesend. Das "Sozialistische Organ Freiheit" schrieb: "Kein König wurde je so bestattet wie unser Schuhmeier."
Der Trauerzug als Protagonist
Wie in allen diesen Fällen ist der wahre Protagonist des Films nicht der tote Mensch, sondern der Trauerzug, die Masse der Personen, die sich zum letzten Geleit einfanden.
Der Kameramann muss sich nicht anstrengen. Er platziert den Aufnahmeapparat an einem passenden Punkt des Weges und lässt die Menschen an seinem Objektiv vorbeiziehen. Die Bewegung wird nicht durch Schwenks der Kamera erzeugt – die bewegte Kamera ist selten in den 1910er Jahren – und auch nicht durch aufwendige Montage. Der "Ton", die Bewegung, wird angegeben durch das Schreiten des trauernden Menschenzugs selbst.
Paolo Caneppele
Erstmals veröffentlicht auf derStandard.at am 17.3.2014
Details zu den Schauplätzen und allgemeine Informationen zum Film auf stadtfilm-wien.at